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Vom Esel auf dem Eis

Standpunkt
Von Volker Giersch

01.05.2014

„Sozial ist, was Arbeit schafft“. Das war einst der Leitsatz von CDU und CSU für ihre Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik – ein Leitsatz, der die Erfahrung aus einer langen Periode der Stagnation und Unterbeschäftigung in Deutschland bündelte. Bei fünf Millionen Arbeitslosen – darunter ein hoher Anteil an Langzeitarbeitslosen – war es vordringliches wirtschaftspolitisches Ziel, wieder mehr Menschen in Beschäftigung zu bringen. Der Weg dorthin erforderte einen Kraftakt – und viel politischen Mut. Es waren Rot-Grün und insbesondere Gerhard Schröder und Franz Müntefering, die mit ihrer Agenda-Politik diesen Mut bewiesen haben. Der CDU-geführte Bundesrat hat sie aktiv dabei unterstützt.

Neben Steuerreformen für mehr Investitionen und Wachstum sah die Agenda-Politik im Wesentlichen eine Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes vor – so etwa die Liberalisierung der Zeitarbeit, Erleichterungen bei der Befristung von Arbeitsverträgen, Mini-Jobs und insbesondere auch stärkere Anreize für Arbeitslose, wieder aktiv nach einer Beschäftigung zu suchen. Flankiert wurden diese Maßnahmen durch eine beschäftigungsorientierte Tarifpolitik.

Das waren bittere Pillen – und eine Zerreißprobe für die Sozialdemokratie. Inzwischen wissen wir: Die Medizin hat gewirkt. Die Arbeitslosenquote ist auf unter sieben Prozent gefallen. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten liegt auf Rekordniveau, viele Länder Europas beneiden uns um das deutsche „Jobwunder". Deutschland – einst der „kranke Mann Europas“ – ist wirtschaftlich gesundet und heute gar Vorreiter und Vorbild bei Innovation, Export und Beschäftigung.

Doch was wiegen solche Erfahrungen gegen die Versuchungen des Populismus? Offenbar gibt es hierzulande ein zwanghaftes Verhaltensmuster, den Kurs zu wechseln, sobald sich erste Erfolge einstellen. Die große Koalition hat den Hebel bereits umgelegt: von „Wachstumsmodus“ auf „Umverteilungsmodus“. Sie setzt damit leichtfertig aufs Spiel, was zuvor mühevoll erreicht wurde. „Wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er aufs Eis“ sagt der Volksmund dazu.

In der Arbeitsmarktpolitik steht jetzt nicht mehr Beschäftigung für alle, sondern die „Qualität der Arbeit" im Vordergrund. „Sozial ist, was gute Arbeit schafft“ heißt dementsprechend die Formel, die die Koalition zur Handlungsmaxime erkoren hat. Man fühlt sich an Orwell erinnert: Was semantisch nur eine Nuance ist, bedeutet faktisch einen Paradigmenwechsel. Es geht jetzt nicht mehr darum, jedem, der will, eine Chance auf Arbeit zu geben. Es geht stattdessen um mehr Geld und um mehr Sicherheit für die Mehrheit der Arbeitsplatzbesitzer. Dass dadurch viele Chancen auf Arbeit vernichtet werden wird dabei in Kauf genommen. Eingeleitet wurde dieser Paradigmenwechsel bereits von Schwarz-Gelb – Stichwort: branchenorientierte Mindestlöhne. Die große Koalition setzt diese Wende jetzt beschleunigt fort.

Mehr „gute Arbeit“, weniger Beschäftigung

Die Rezeptur, mit der die Regierung mehr "gute Arbeit" schaffen will, ist denkbar einfach: Sie besteht schlichtweg darin, schlechte Arbeit – „prekäre Arbeit“ – zu erschweren oder zu verbieten. Dahinter steht der ökonomische Wunderglaube, dass sich schlechte Arbeit quasi per Dekret in gute Arbeit umwandeln lässt. Beispiel  flächendeckender Mindestlohn. Von wenigen Ausnahmen abgesehen soll er ab dem kommenden Jahr 8,50 Euro betragen für nahezu alle Beschäftigte. Eine grandiose soziale Wohltat! Denn rund sechs Millionen Menschen verdienen dann 10, 20, 30 oder gar 40 Prozent mehr als heute. Die Kaufkraft steigt entsprechend. Die Steuereinnahmen auch. Und die Sozialtransfers sinken.

Es scheint freilich, als gäbe es noch gewisse Restzweifel. Denn: Warum nicht gleich einen Mindestlohn von 10,70 Euro festlegen, wie es der Vorstandsvorsitzende der Arbeitskammer, Hans Peter Kurtz, kürzlich vorgeschlagen hat? Das müsste doch dann einen wahren Wirtschaftsboom auslösen – jedenfalls in der Logik des sozialen Wunschdenkens. In dieser Logik gibt es keine unerwünschten Nebenwirkungen wie etwa den Verlust von Arbeitsplätzen, die sich nicht mehr rechnen.

Leider sagt uns die ökonomische Logik etwas anderes. Sie besagt, dass viele Geringqualifizierte ihren Job verlieren werden, weil sich ihre Beschäftigung nicht mehr über den Markt finanzieren lässt. Aus „Aufstockern“ werden dann Arbeitslose, die vollständig auf Transfers angewiesen sind. Wie viele Arbeitsplätze das kosten wird, lässt sich nicht genau sagen. Aber mehrere Hunderttausende dürften es schon sein. Zu diesem Ergebnis kamen erst kürzlich die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute. In ihrem Frühjahrsgutachten sagen sie voraus, dass schon kurzfristig 200.000 Jobs wegfallen werden, bis Ende 2018 dann weitere 150.000. Dreihundertfünfzigtausend zusätzliche Arbeitslose, überwiegend wohl gering Qualifizierte und Menschen aus strukturschwachen Regionen! Leider blieben und bleiben solche Mahnungen ungehört. Das nächste Kapitel ist bereits programmiert. Es trägt die Überschrift „Lernen durch schmerzhafte Erfahrung.“ Denn de facto heißt die Alternative nicht „gut bezahlte Arbeit oder schlecht bezahlte Arbeit“, sondern „Arbeit zu marktgerechten Löhnen oder keine Arbeit“.

So gesehen startet die Politik jetzt das größte Experiment am deutschen Arbeitsmarkt seit der Agenda 2010. Leider mit umgekehrtem Vorzeichen. Und leider auch ohne Aussicht auf grundsätzliche Korrekturen. Die negativen Auswirkungen lassen sich freilich noch begrenzen – durch großzügigere Ausnahmeregelungen etwa. So könnten durch eine Altersgrenze von 25 Jahren negative Anreize für Jugendliche vermieden werden, anstelle einer Ausbildung eine „Mindestlohn-Arbeit“ aufzunehmen. Die IHK-Organisation setzt sich energisch dafür ein.

Weiterhin viele Aufstocker

Zu den größten Irrtümern gehört im Übrigen die Annahme, die Zahl der Aufstocker ließe sich durch Mindestlöhne deutlich reduzieren. Fakt ist, dass die Zahl der Aufstocker durch die Einführung eines Mindestlohns von 8,50 Euro bestenfalls geringfügig sinken kann – von derzeit gut 1,3 Millionen auf 1,2 Millionen. Und dies aus zwei Gründen:
Rund 900.000, d.h. etwa siebzig Prozent aller Aufstocker sind nur deshalb auf Transfers angewiesen, weil sie in Teilzeit arbeiten. Sie werden auch bei einem Stundenlohn von 8,50 Euro Aufstocker bleiben.
Weitere 300.000 sind Alleinverdiener, die zwar Vollzeit arbeiten, aber von ihrem Einkommen noch Ehepartner und Kinder ernähren müssen. Auch sie werden weiterhin auf ergänzende Transfereinkommen angewiesen sein.

Maximal erreichbar ist also ein Rückgang um gerade einmal 100.000 Aufstocker. Und bei diesen ist es noch fraglich, ob ihre Arbeitsplätze überhaupt erhalten bleiben. Wissenschaftler der Bundesagentur für Arbeit haben berechnet, dass durch die staatlich verordnete Lohnerhöhung lediglich zwischen 43.000 und 64.000 berufstätige Hartz-IV-Bezieher den Sprung aus der Grundsicherung schaffen können. Das sind nicht einmal fünf Prozent aller Aufstocker.

Negative Beschäftigungseffekte sind nicht nur vom Mindestlohn, sondern auch durch die geplanten restriktiveren Regelungen für die Zeitarbeit zu erwarten. Die Höchstdauer der Arbeitnehmerüberlassung soll gesetzlich auf 18 Monate begrenzt werden. Zudem sollen Zeitarbeitnehmer den Stammbelegschaften beim Arbeitsentgelt spätestens nach neun Monaten gleichgestellt werden. Das wird die Zeitarbeit weiter verteuern und insbesondere für einfache Arbeiten unattraktiver machen. Auch dadurch werden Job-Chancen verloren gehen. Und es wird wieder verstärkt zu „Drehtür-Effekten“ kommen.

Problematische Regulierung droht auch bei den Werkverträgen, die von existenzieller Bedeutung für eine arbeitsteilige Volkswirtschaft wie die unsere sind. Hier ist vorgesehen, die Informations- und Unterrichtungsrechte des Betriebsrates zu stärken – mit der Folge, dass unternehmerische Entscheidungsprozesse erschwert werden und zusätzliche innerbetriebliche Bürokratie entsteht. Auch das kostet Flexibilität.

Rente mit 63 bremst Wachstum

Die sicher gefährlichste Rolle rückwärts bedeuten die Rentenpläne der großen Koalition. Die Stichworte heißen: Rente mit 63, Mütterrente, Erwerbsminderungsrente und solidarische Lebensleistungsrente. Insgesamt, so die Schätzung von Experten, wird dieses Rentenpaket die Beitrags- und Steuerzahler bis 2030 rund 200 Milliarden Euro kosten – Geld, das an anderer Stelle dringend benötigt würde. Zuvörderst gewiss für eine langfristige Stabilisierung der Rentenversicherung selbst. Aber auch für die Sanierung und den Ausbau unserer Verkehrsinfrastruktur, die seit vielen Jahren unter einem schleichenden Substanzverzehr leidet.

Kostentreibend und wachstumshemmend ist dabei vor allem die Rente mit 63. Dies gleich aus zwei Gründen: Erstens verschärft sie den Fachkräftemangel, indem sie viele gut ausgebildete und erfahrene Fachkräfte in die Frühverrentung treibt. Und das just in einer Zeit, in der es immer schwieriger wird, ausreichend Lehrlinge und Fachkräfte zu finden. Mithin wächst die Gefahr, dass der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften schon bald zur Wachstumsbremse wird – mit allen Folgekosten, die das mit sich bringt. Gerade uns im Saarland wird das aufgrund des stärkeren demografischen Wandels  besonders treffen. Die neuerliche Frühverrentungswelle wird das erst kürzlich verkündete Zukunftsbündnis „Fachkräfte Saar“ massiv konterkarieren.

Zweitens kostet die Rente mit 63 auf Dauer richtig viel Geld, das unsere Kinder und Enkel werden aufbringen müssen. Fresenius-Chef Ulf M. Schneider hat sie kürzlich zu Recht als „Sünde an den jungen Menschen“ bezeichnet. In der Tat ist sie das genaue Gegenteil von vorsorgender und Generationen gerechter Wachstumspolitik.

Um wie vieles besser war da die Politik der letzten großen Koalition! Erinnern wir uns: Sie hat seinerzeit die Lohnnebenkosten gesenkt, um zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen. Und wichtiger noch: Arbeitsminister Müntefering hat gegen große Widerstände in seiner Partei die Rente mit 67 auf den Weg gebracht, um das Rentensystem zukunftsfest zu machen. Dieses wichtige Reformwerk wird jetzt durch eine Politik der teuren Rentengeschenke massiv entwertet.

Bleibt die Hoffnung, dass unsere Regierung möglichst rasch wieder auf den Kurs der ökonomischen Vernunft zurück findet. Oder um im Bild zu bleiben: die Hoffnung, dass der Esel vom Eis kommt, bevor er stürzt.